Ein Bericht von Wolfgang Stelljes – Alle Rechte beim Urheber
Das „Hiller“ in Hannover ist das älteste vegetarische Restaurant in Deutschland. Seit 1955 wird hier fleischlos gekocht, seit 2012 sogar nur noch vegan. Ein Ortsbesuch.
Hungrige Menschen sollten vielleicht besser nicht weiterlesen oder erst eine Kleinigkeit zu sich nehmen. Denn es ist zugegeben ein bisschen gemein, das Buffet im Hiller zu beschreiben. Allein über neun warme Komponenten darf sich der geneigte Veganer hermachen, zum Beispiel Kichererbsen-Curry, Seitan-Gulasch oder Auberginen-Ragout. Immer dabei: Bratkartoffeln und Gemüse-Variationen. Dazu Salate. Und Nachtisch, gleich drei Sorten. Doch dazu später mehr.
Pioneer des Vegetarismus
Das Restaurant in der Blumenstraße, nur rund zehn Fußminuten vom Hauptbahnhof entfernt, ist von außen eher unspektakulär. Der aufsteigende Schriftzug „Hiller“ an der Fassade erinnert an Georg Hiller, den Namensgeber. Vegetarier werden ist „so einfach“, das kann man „völlig geräuschlos“, war der Unternehmer aus Bad Rehburg überzeugt. „Man läßt einfach das Fleisch weg.“ Die Beschäftigung mit Ernährungsfragen lag bei ihm quasi in der Familie, sein Vater hatte nach einer Tuberkulose-Erkrankung die „Rehburger Diät- und Teefabrik“ gegründet und war ein früher Verfechter ballaststoffreicher Kost. Hiller junior baute ab Mitte der 1950er Jahre ein „Haus der Gesundheit“ in der Blumenstraße auf. Unter einem Dach: die „vegetarische Gaststätte“, die am 13. Dezember 1955 ihre Türen öffnete, eine Yoga-Schule und die Geschäftsstelle des Vegetarier-Bundes Deutschland, dessen Vorsitzender er war. 1960 organisierte Hiller in Hannover und Hamburg den Weltkongress der Vegetarier, auch verantwortete er redaktionell die Zeitschrift „Der Vegetarier“. Kurzum: Georg Hiller war ein Pionier des Vegetarismus in Deutschland.
Waerland-Platte in Wollsocken
In der Küche wirbelt Robert Beck, der heutige Besitzer. Das vergangene Jahr war „mental anstrengend“, sagt der 51-Jährige. In der Corona-Zeit hat seine Facebook-Seite „geglüht“, das schon. Auch war die „Döner-Tasche mit Soja-Schnitzeln to go“ ein echter Renner. Trotzdem: „Ich war so froh, als ich hier wieder die ersten Teller angerichtet habe“. Fast könnte man sagen: Beck lebt im Hiller. Wenn er nicht gerade eine Runde mit dem Hund dreht, dann ist er in seinem Restaurant. „Ich bin gelernter Koch und weiß, was es heißt, zehn Stunden zu ackern.“
Es ist 17 Uhr, Zeit fürs Buffet. Ali, ein Mitarbeiter, trägt noch auf, die ersten Gäste haben bereits einen Teller in der Hand. Kaum jemand nimmt Notiz vom Heiligen Franziskus – der Schutzpatron der Tiere frönt ein Nischendasein gleich neben der Eingangstür. Das Interieur ist eher schlicht. Im Hintergrund dezente Klaviermusik, auf der Fensterbank ein lächelnder Buddha. An der Wand alte Fotos, damals an den Töpfen: ein ehemaliger Pächter und seine Frau. „Musik gab es noch nicht, es war eine ruhige, fast bedächtige Atmosphäre“, erzählt Beck. Der Klassiker in den 1970er und 1980er Jahren war die „Waerland-Platte“, sieben Sorten Rohkost, geraspelt, mit Pellkartoffeln und Leinsamenöl. Die Platte war benannt nach Are Waerland, einem populären Arzt aus Schweden. „Bei ihm durfte auch nie ein Löffel Quark fehlen.“
Und die Gäste? „Das war die Naturkost-Szene, Leute mit Wollsocken, die ihr Essen gut kauten“, sagt Beck. An weißen Tischdecken tafelten sie gemeinsam mit Yogis und Anthroposophen, vereint im Wunsch nach „gesunder Lebensführung“. Auch Promis wurden gesehen, Bandmitglieder von Depeche Mode zum Beispiel oder von den Scorpions, aber die sind ja auch in Hannover zu Hause.
Vom Gourmet-Tempel in die Veggie-Institution
Die Anfänge des Hauses kennt Beck nur vom Hörensagen. Nach seiner Ausbildung war er zunächst „Jung-koch“ bei Rainer Feuchter, einer schillernden Figur in Hannovers Gastro-Szene. Feuchter betrieb das „Lila Kranz“, ein Gourmet-Restaurant. Bei Gastspielen von Roger Moore, Joe Cocker oder Thomas Gottschalk trug Beck zusammen mit Feuchter auf. 1999 wurde die Leitung im Hiller frei, das zu dieser Zeit ebenfalls von Feuchter betrieben wurde. Beck sagt zu, „vielleicht auch ein bisschen Bestimmung“, denn er litt an einer Fischallergie. Der Vegetarismus war längst „gesellschaftsfähig“, der BSE-Skandal noch nicht vergessen. Als Neu-Vegetarier ist Beck anfangs noch „zwei oder drei Mal rückfällig geworden“, zur Grillsaison oder zu Weihnachten, „die gute Gans“ bei Muttern. Seit rund zehn Jahren lebt und kocht er konsequent vegan. Und unterstützt Gruppen und Organisationen, die sich für Tierrechte und die „vegane Idee“ einsetzen. Wichtig ist ihm auch der ökologische Aspekt: Dass ein Großteil der Soja-Ernte in die Tiermast geht und der Urwald abgeholzt wird, will ihm einfach nicht in den Kopf. Außerdem fühlt er sich persönlich „vitaler und leistungsfähiger“.
Regional, saisonal, frisch
„Wir haben jedes Gemüse geraspelt, gestampft und zum Bratling geformt“, sagt Beck. Seine Produkte bezieht er aus der Region. Manchmal geht er über die Märkte und schaut, ob die Bauern aus der Wedemark oder Wennigsen vielleicht gerade Mairübchen im Angebot haben. „Wir kochen relativ bodenständig, klassische Gerichte nach Saison, aber immer frisch und selbstgemacht. Auch den Rotkohl legen wir noch selbst ein, das wird immer seltener, gute Häuser machen das.“ Den aktuellen Burger- und Bowl-Hype wird das Haus überleben, so Beck selbstbewusst. „Wir haben einen Status. Wer uns sucht, der wird uns finden.“
Und so sind auch an einem ganz gewöhnlichen Donnerstag fast alle Tische besetzt. An einer Tafel stehen die Tellergerichte, „Avocado-Tomatensalat im Buchweizenpfannkuchen mit Bratkartoffeln“ zum Beispiel. Einige der Gäste nähern sich der veganen Küche mit einem Sechs-Gänge-Menü, sehr viele aber auch über das Buffet, das täglich angeboten wird. Und bei dem man zwischen drei Sorten Nachtisch wählen kann, an diesem Tag Kokosnuss-Gries-Pudding, Beerenkompott und ein Mangomus, so sahnig-lecker, dass man sich fragt, wie in aller Welt Beck das hingekriegt hat.